Ann-Helén Laestadius: Das Leuchten der Rentiere
Durch Zufall stieß ich auf der Suche nach gutem, neuen Lesestoff auf diesen Roman und da ich ja vor kurzem erst selbst im hohen Norden war, hätten Buchtitel und Cover nicht besser passen können. Und ich kann schon verraten: Ich wurde nicht enttäuscht. – Und nein: Man muss nicht im hohen Norden gewesen sein, um dieses Buch zu mögen! Man sollte lediglich etwas Interesse an einem indigenen Volk haben, von dem man hier sonst wenig mitbekommt.
Der in drei Teile gegliederte Roman „Das Leuchten der Rentiere“ (im schwedischen Original: stölt = Diebstahl) spielt im hohen Norden Schwedens beim rentierzüchtenden Volk der Samen. Die Protagonistin Elsa ist im ersten Teil erst neun Jahre alt und wird zufällig Zeugin, wie ein Nicht-Same ihr Rentierkalb tötet. Der auf frischer Tat ertappte Wilderer zwingt sie zum Schweigen und verhindert damit, dass die im Verlauf der Geschichte ohnehin desinteressiert und untätig wirkende Polizei diesen Tötungsdelikt an einem Rentier der Samen weiterverfolgt. Stattdessen wird der Fall als „Diebstahl“ zu den Akten gelegt.
Trotz dieser Ausgangssituation, immerhin einer Straftat, entwickelt sich die Geschichte zunächst sehr langsam und ruhig. Man lernt erstmal vor allem Elsa und die anderen Charaktere aus ihrem verwandtschaftlichen Umfeld kennen, Sitten, Gebräuche und Sprache der Samen sowie die Schwierigkeiten des Volkes mit der nicht-samischen Landbevölkerung. Letztere beginnen bereits im Kindesalter mit Ausgrenzung und Mobbing in der Schule. Und einige verspüren auch schmerzlich die Einsamkeit im hohen Norden.
Hierfür muss man schon etwas Geduld aufbringen (bis zum Ende des ersten Teils, im Hardcover auf Seite 146) und sich an die fremden Begriffe gewöhnen (die hinten im Buch erläutert werden) – doch es lohnt sich!
Der zweite Teil beginnt mit einem Zeitsprung von 10 Jahren, d.h. Elsa ist mittlerweile neunzehn, und es geschieht direkt etwas Grausames, das der Geschichte an Fahrt verleiht und den Leser mitnimmt. Im weiteren spannenden Verlauf sieht sich Elsas Sippenverband durch die Wilderei zunehmend mit Straftaten konfrontiert, die weder polizeilich verfolgt noch geahndet werden, sondern als "Diebstahl" zu den Akten gelegt werden.. Ohnmacht und unterdrückte Wut wachsen. Elsa will dies jedoch nicht schweigend hinnehmen und prangert mutig die Straftaten gegen ihr Volk und die Untätigkeit der Politzeit öffentlich mittels Fotos auf Social Media sowie in einem Interview mit einer Journalistin an - was nicht bei allen gut ankommt. Es folgen Hate-Postings und Situationen, die für Elsa zunehmend bedrohlicher werden …
Ein tolles Buch, das zwar erst langsam in Schwung kommt, nachher dann aber doch spannend wird, dabei regelrecht unter die Haut geht und zugleich auch nachdenklich stimmt.
Dazu vermittelt Ann-Helén Laestadius einen interessanten Einblick in das traditionelle Leben der Samen (wobei ich insbesondere die Beschreibung des „Joikens“, einem speziellen Gesangsstil, interessant fand, s. auf youtube, z.B. hier) mit all ihren Schwierigkeiten in der modernen Welt, z.B. der Rolle der Frau (der traditionell keine leitende Stellung in der Rentierhaltung erlaubt ist), der Naivität der Touristen (die vor allem gerne Instagram-Fotos machen wollen), dem Klimawandel (der Rentiere sterben lässt), der Diskriminierung der Samen und der hohen Suizidrate unter ihnen. Aber es wird auch ein universelles Problem angesprochen: Dass heutzutage zwar sehr viel gechattet und gepostet wird, leider aber zu wenig wirklich miteinander über konkrete Probleme und Gefühle des Einzelnen gesprochen wird.
Ich hatte mich zugegebenermaßen vorher noch nicht näher mit dem Volk der Samen beschäftigt und wenn es um den Themenkomplex „Ureinwohner – Diskriminierung, Rassismus, Entrechtung“ ging, dachte ich mehr an fernere Gefilde wie Australien, Süd- oder Nordamerika als an das quasi benachbarte Schweden. Ich muss sagen: Ich bin sehr erstaunt von Schweden. Im negativen Sinn. Das hätte ich nicht gedacht. In ihrem Schlusswort erwähnt die Autorin, die selbst dem Volk der Samen angehört, dass sich die Erzählung an wahre Gegebenheiten anlehnt und sie bei ihrer Recherche für den Roman einhundert Strafanzeigen von Samen durchgegangen ist. Man fragt sich wirklich, woher dieser Hass kommt und warum einige diesen nicht nur an den Menschen, sondern auch an den Tieren auslassen müssen.
In einem sehr informativen Interview mit Ann-Helén Laestadius (auf Englisch) erfährt man noch mehr zu den Hintergründen zu diesem Roman (insgesamt ca. 57 min):
https://www.youtube.com/watch?v=DAnXO6YqvlY
Die Samen sind übrigens als Urvolk anerkannt - aber einzig Norwegen stellt sie unter den Schutz der internationalen ILO-Konvention 169 (Übereinkommen über eingeborene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern, das rechtsverbindlichen Schutz und Anspruch auf eine Vielzahl von Grundrechten garantiert).
Der Klimawandel bedroht ihre Lebensweise in besonderem Maße, da zunehmend Rentiere durch Hitzestress, Verbuschung, Parasiten und Nahrungsmangel im Winter (Regen anstelle von Schnee lässt den Boden vereisen und die Tiere gelangen nicht mehr an Nahrung) verenden.
Nachtrag: Seit dem 12. April 2024 gibt es die Verfilmung des Romans auch auf Netflix zu sehen, sehr sehenswert trotz einiger Abwandlungen der Handlung gegen Ende!